«Die perfekte Lebensschule»
Referee Samuel Bernet tritt Ende Saison nach über 500 internationalen und nationalen Spielen zurück. Wir haben den Ostschweizer zum Gespräch getroffen.
Schiedsrichter Samuel Bernet tritt per Ende Saison zurück
Schiedsrichter Samuel Bernet tritt Ende Saison zurück und hängt seine Pfeife nach über 500 nationalen und internationelen Spielen an den Nagel. Wir haben die Gelegenheit genutzt und ihn zum Gespräch getroffen. Im Interview erzählt der 35-jährige Ostschweizer von seinen Erlebnissen, seiner Rücktrittsentscheidung – und warum es sich lohnt, eine Karriere als Referee einzuschlagen.
Samuel Bernet, warum soll sich heute ein junger Mann oder eine junge Frau dafür entscheiden, Referee zu werden?
Samuel Bernet: Weil Schiedsrichter zu sein die perfekte Lebensschule ist. Es geht um Psychologie, um Kommunikation, um Fingerspitzengefühl. Ein Spiel zu leiten ist eine grossartige Herausforderung, an der man wachsen kann. Wer bereit ist, sich auf diese Aufgabe einzulassen, dem kann sie viel Freude und unbezahlbare Erfahrungen bringen. Ausserdem ist man als Schiedsrichter hautnah dabei, wenn es um Sieg oder Niederlage und um Emotionen geht.
Schiedsrichter stehen aber oft in der Kritik – eigentlich kann man es selten allen Recht machen. Warum soll sich das jemand freiwillig antun?
Samuel Bernet: Weil es eine ganz besondere Aufgabe ist. Ich kann nur für mich sprechen: Handball ist meine grosse Leidenschaft, dafür lebe ich seit 30 Jahren. Ich war Spieler und Trainer und ich war damals stets sehr fordernd gegenüber den Schiedsrichtern. Die speziellen Herausforderungen des Referees hatten für mich darum von Beginn an einen ganz besonderen Reiz. Cup- und Playoff-Spiele sind dabei Highlights, weil es um alles oder nichts geht.
Was macht einen guten Schiedsrichter aus?
Samuel Bernet: Mir hat der Begriff «Spielleiter» eigentlich immer besser gefallen als der Begriff «Schiedsrichter». Wir sind keine Richter, die ein Urteil fällen, sondern unsere Aufgabe ist es, das Spiel zu leiten. Wir bewegen uns in einem permanenten Spannungsfeld, treffen Entscheide unter Stress und liegen durchaus auch manchmal daneben. Auch wir sind Menschen – manchmal gelingt uns ein Spiel besser, manchmal weniger gut. Wer in dieser Rolle die Ruhe bewahren und sich im Dreieck aus Kommunikation, Psychologie und Regeltaktik optimal bewegen kann, ist wahrscheinlich ein guter Spielleiter.
«Mir hat der Begriff «Spielleiter» eigentlich immer besser gefallen als der Begriff «Schiedsrichter». Wir sind keine Richter, die ein Urteil fällen, sondern unsere Aufgabe ist es, das Spiel zu leiten.»
Wie gehst du während dem Spiel mit Fehlentscheiden um?
Samuel Bernet: In den meisten Fällen merke ich unmittelbar, ob der Pfiff richtig oder falsch war. Da wäre eine Reaktion von Trainern, Spielern oder vom Publikum gar nicht nötig. Auch das ist ein Teil der Lebensschule: Wir begehen Fehler und müssen damit umgehen können. Ein Schiedsrichter muss sehr kritikfähig sein und die Kritik differenziert betrachten. Wir müssen empfindsam sein, aber nicht empfindlich. Mein Partner (Dominique Wick, Red.) und ich haben auch schon mit einem Mentaltrainer gearbeitet. Nicht zuletzt, um solche Situationen besser bewältigen zu können. Wenn du aber bei einem gellenden Pfeifkonzert zittrige Knie bekommst, bist du kein Spitzenreferee.
Ende Saison ist nach mehr als 500 nationalen Spielen und 55 internationalen Einsätzen Schluss. Warum?
Samuel Bernet: Da gibt es mehrere Gründe. Über allem steht bei mir aber das Familiäre – da möchte ich mehr Zeit investieren können. Die Tätigkeit als Schiedsrichter ist sehr intensiv, kostet Energie, verlangt vieles ab und ging nicht spurlos an mir vorbei. Ich wollte auch immer den richtigen Zeitpunkt für den Rücktritt wählen. Für mich stimmt der Moment und ich möchte die letzte Saison bewusst geniessen.
Wenn du die Möglichkeit hättest, für die Schiedsrichter in der Schweiz eine Lanze zu brechen – wo würdest du ansetzen?
Samuel Bernet: Ich denke, die grösste Herausforderung ist, dass an uns immer professionellere Ansprüche gestellt werden, wir uns aber in einem schwierigen Amateur-Umfeld bewegen. Ich musste phasenweise mein Fitnesstraining dreimal pro Woche um sechs Uhr morgens abhalten, weil es für mich neben dem Job und der Familie der einzig mögliche Zeitpunkt war. Die Videoanalyse findet oft am späten Abend statt, wenn die Kinder im Bett sind. Wir kommen als Schiedsrichter selber für unser Material auf, arbeiten 100 Prozent und reisen abends noch durch die Schweiz, um ein Spiel zu leiten. Heimspiele vor der Haustüre gibt es für einen Referee nicht – wir haben nur Auswärtsspiele. Wir versuchen dabei bestmöglich, alles unter einen Hut zu bringen und trotz allem wird es bei einem Schiedsrichter nicht toleriert, wenn seine Leistung nicht gut genug, nicht professionell ist.
Wenn die Ansprüche steigen, wie reagiert das sportliche Umfeld?
Samuel Bernet: Ich schätze einen offenen und ehrlichen Dialog mit Spielern und Trainern sehr. Es ist enorm wertvoll, nach dem Spiel die Leistung zu reflektieren und sich auszutauschen. Auf der anderen Seite besorgt es mich, dass der Respekt von Vereinsfunktionären – und ich rede hier explizit nicht von Trainern oder Spielern – über die Jahre stets kleiner geworden ist. Das darf nicht sein und durch Beleidigungen wird auch kein Schiedsrichter besser. Kein Referee auf der Welt steht nämlich hin und sagt sich: Heute pfeife ich das Spiel schlecht.
«Durch Beleidigungen wird auch kein Schiedsrichter besser. Kein Referee auf der Welt steht nämlich hin und sagt sich: Heute pfeife ich das Spiel schlecht.»
Welches waren eure Highlights auf internationaler Ebene?
Samuel Bernet: Da sind natürlich ganz viele spannende Erinnerungen und Anekdoten hängen geblieben. Beispielsweise als wir auf Zypern bei 40 Grad pfeifen mussten. Oder einmal in Norwegen, als die Zuschauer schon eine Stunde vor dem Spiel so viel Stimmung machten, dass bei uns in der Garderobe die Bänke zitterten. Die kurioseste Geschichte haben wir wohl in Ungarn erlebt, als die Gästefans auf ihrer Tribüne ein Feuer legten und das Spiel deswegen unterbrochen werden musste. Eindrücklich war auch, die hochprofessionelle Organisation der Rhein-Neckar Löwen aus dieser Perspektive zu erleben. Ganz grundsätzlich hat mich aber die Gastfreundschaft in den armen europäischen Ländern immer am meisten beeindruckt. Die Herzlichkeit jener Menschen, die selbst kaum etwas besitzen, war unbeschreiblich.
Warum habt ihr denn – bei solchen Erlebnissen – eure internationale Karriere schon früh an den Nagel gehängt?
Samuel Bernet: Um den internationalen Durchbruch zu schaffen, müssen die Leistung und gleichzeitig auch das sportpolitische Umfeld stimmen. Wir können da als Vergleich Arthur Brunner und Morad Salah hernehmen. Sie sind zweifellos die besten Schiedsrichter, die ich in der Schweiz seit langem gesehen habe. Sie investieren unglaublich viel und sind sehr talentiert. Sie haben in wichtigen Momenten die Leistung abgerufen und wurden gesehen; darum kommen sie jetzt völlig zurecht auf der grossen Bühne zum Einsatz. Letztlich hat uns für die ganz grossen Spiele die Perspektive gefehlt.
Was wird nun nach Abschluss der Saison aus Samuel Bernet und dem Handball?
Samuel Bernet: Natürlich freue ich mich auf mehr Spontaneität mit der Familie, wenn es dann soweit ist. Seit vielen Jahren richten sich alle nach meinem Einsatzplan. Aber ich bin Handballer aus Leidenschaft – ich werde dem Sport nach einer Verschnaufpause ganz gewiss in irgendeiner Form erhalten bleiben.